»Auf den Teppichen von Obrist, von Eckmann schien auf einmal die ganze Feldblumenpracht der Wiesen von Rottach und Tegernsee zu erblühen. Unvergeßlich wie diese blühenden Wunder plötzlich vor unseren Augen erschienen! Es war, als habe gerade hier, auf dem Felde der angewandten Kunst, der Naturalismus sein Bestes, sein Stärkstes zeigen wollen … Mit einem Schlage wurde eine ganze Reihe neuer Namen bekannt …«
Was der 1895 aus Berlin nach München zugezogene berühmte Schriftsteller Max Halbe, rückblickend in seinen Lebenserinnerungen beschreibt, ist die sensationelle Geburt eines neuen Stils, einer modernen Kunstrichtung in München, die man später als »Jugendstil« bezeichnen wird.
Es werden kräftige Farben, neue Formen, schwingende Linien, florale Ornamente verwendet, das Künstlerische verbindet sich mit dem Handwerk, mit der Architektur und ergreift alle Lebensbereiche:
»Jugendstil heißen sie jeden Topf, auf dem eine schauerlich stilisierte Lilie, oder ein Frauenzimmer mit verrückter Friseur, oder eine Orchidee abgebildet ist. … Jugendstil heißen die Stühle, auf denen man nicht sitzen, Schränke, in die man nichts hineinthun, Gläser aus denen man nicht trinken, Löffel mit denen man nicht essen kann! Es ist um aus der Haut zu fahren«, so die spöttische Beschreibung des Münchner Dichters Hanns von Gumppenberg im Rückblick.
Revolutionär
Jugendstil ist die deutsche Variante einer revolutionären, europäischen, modernen Kunstbewegung und Kunstproduktion, die vor 1900 in England, Frankreich, Belgien, Deutschland und Österreich entsteht. Die Tonangebenden dieser neuen Kunstbewegung, die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zuerst in den europäischen Metropolen, London, Paris, Brüssel, München und Wien entsteht, stehen in engem Austausch. Sie beeinflussen und inspirieren sich mit ihrem künstlerischen Wirken gegenseitig.
Unter Anwendung neuer Prinzipien wurde damals versucht ein neues Zeitalter als Antwort auf die Industrialisierung und den Historismus in Europa auszurufen. Die Künstler suchten nach einem Stil der eigenen Zeit mit eigenem Charakter. Kunst und Leben sollten umfassend reformiert und zu einer neuen Einheit, zu einer utopischen, ästhetisch bestimmten Lebens- und Gesellschaftsform zusammengeführt werden, die den privaten Lebensraum vollständig durchdringen sollte. Ziel war es, ein Gesamtkunstwerk zu schaffen, das die Grenzen zwischen Leben und Kunst aufheben sollte. So war es auch die künstlerische Überformung von funktionalen Alltagsgegenständen, die die Gemälde, Möbel, Schmuck, Gläser, Keramiken, Textilien und Lampen des Art Nouveau und Jugendstils auszeichneten. Wichtig war die Nachahmung der Natur, etwa durch geschwungene Linien oder florale Ornamente. Auch düstere, symbolistische Gestaltungen beeinflussten die Kunst und Kultur des Fin de Siécle.
Eine entscheidende Rolle spielte der sogenannte Japonismus. Die ausgefallene Schönheit und der Geist der japanischen Kunst erfassten und beeinflussten die angewandten Künste in Europa seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Ohne die Inspirationen, die japanische Kunst den Europäern lieferte, wären Art Nouveau und Jugendstil so nicht entstanden.
Eine entscheidende Rolle für Entstehung und Entwicklung dieser modernen neuen Stilrichtung spielten dabei auch das Engagement und der Kunstsinn von Künstlern und Kunsthändlern jüdischer Herkunft.
Zur Entstehung des Jugendstil in München
Die neue Kunstrichtung und -produktion vor, um und nach 1900, welche die künstlerische Moderne einleitet, die in England “Arts and Crafts” und in Frankreich “L’Art Nouveau” heisst,
erhält inDeutschland den Namen Jugendstil. Und zwar um 1897 im Zusammenhang mit der legendären Zeitschrift “Jugend”, die 1896 in München von
Georg Hirth, dem Herausgeber der “Münchner Neuesten Nachrichten”, gegründet wird. Die Zeitschrift “Jugend”, die sich als gegenwärtig und modern versteht, wird zur Namensgeberin der neuen Stilrichtung. Hirth, der eine immense Rolle in der modernen Erneuerungsbewegung und für den Münchner Jugendstil spielt, lehnte sich bei dem Titel „Jugend“ für seine Zeitschrift auch an das Theaterstück „Jugend“ von Max Halbe an, mit dem Hirth eng befreundet ist. Er versuchte auch die erstarrten Traditionen europäischer Malerei mit der Herausgabe eines „Formenschatzes“ aufzubrechen, Vorlagenbücher zur Bildung eines neuen Geschmackes und Entwicklung einer neuen Kunstrichtung. Tatsächlich ist es Georg Hirth mitzuverdanken, dass München um 1900 allgemein als die Stadt des Jugendstils und Japonismus angesehen wurde.
Nicht nur wegen der Namensgebung entwickelt sich München um 1896 zur Geburtsstadt des deutschen „Jugendstils“, sondern dies ist insbesondere zwei Münchner Künstlern zu verdanken: Hermann Obrist und August Endell, die Anfang der 1890er nach München zugezogen sind.
Seit 1896 treten sie, die auch an vorderster Front der Münchner Frauenbewegung aktiv sind, mit wegweisenden, ikonischen Werken in die Öffentlichkeit:
“Alpenveilchen” heißt der Wandbehang, die revolutionäre Stickerei von Hermann Obrist, die seit Ende März 1896 alle modern gesinnten Menschen in München, Berlin und London begeistert und die bis heute als der “Der Peitschenhieb” bekannt ist.
Revolutionär ist auch Endells programmatische Schrift “Um die Schönheit”. In ihr rechnet er mit der Vergangenheit ab und weist einen Weg in die Moderne.
August Endell: Um die Schönheit
Im Sommer 1896 finden in München zwei Kunstausstellungen statt, auf die August Endell mit einem langen Aufsatz reagiert:
“Um die Schönheit – Eine Paraphrase über die Münchener Kunstausstellungen 1896” “erscheint in einem 29 Seiten umfassenden Heft. Der Umschlag ist mit einem Ornament geschmückt: mit einer tiefschwarzen Orchidee. August Endell selbst hat den Umschlag entworfen, hat dieses Ornament geschaffen. In seiner Schrift lässt der Autor kaum ein gutes Haar an den ausgestellten Künstlern, unter ihnen Max Liebermann und Franz von Lenbach und erstellt eine lange Liste ihrer Unzulänglichkeiten. Von größter Bedeutung jedoch ist, dass Endell zugleich Wege zu einer neuen modernen Kunst weist.
In Anlehnung an Prof. Theodor Lipps Erkenntnistheorie, der damals berühmt ist und an der Münchner Universität Vorlesungen hält, entwirft Endell ein ästhetisches Konzept, das sich auf die These einer unmittelbaren Gefühlswahrnehmung gründet:
»… wer nur einmal die Gefühlswirkung der Formen und Farben verspürt hat, der wird darin eine nie versiegende Quelle außerordentlichen und ungeahnten Genusses finden. …
Wen niemals die köstlichen Biegungen der Grashalme, die wunderbare Unerbittlichkeit des Distelblattes, die herbe Jugendlichkeit sprießender Blattknopsen in Verzücken versetzt haben,
wen nie … die große Ruhe weiter Blättermassen gepackt und bis in die Tiefen seiner Seele erregt hat, der weiß noch nichts von der Schönheit der Formen.«
Das Sich-Versenken in Form und Farbe und die daraus resultierenden Gefühle stehen für August Endell im Zentrum. Es schreibt: »Es giebt gewisse Orchideen, die zu dem Entsetzlichsten gehören, daß man sich denken kann, die uns direkt Furcht einflößen.« Es ist genau diese Macht, die Endell an der Kunst interessiert.
Tatsächlich liegt in diesem Zitat die Wurzel zu seinem Heftumschlag: die stilisierte Form eines vielarmigen, zweiäugigen und sehr bedrohlich wirkenden Unterseeungeheuers, einer Art Schädel. Dass es sich um die Blüte einer Orchidee handelt, erkennt man nicht auf den ersten Blick. Mit seiner Schrift “Um die Schönheit” eröffnet er der Kunst neue Wege und legt damit einen Grundstein für den deutschen Jugendstil.
Die zentrale Bedeutung, die damals die Künstlerkolonie in Schwabing und in der Maxvorstadt für die Entwicklung des deutschen Jugendstils einnahm, ist kein Geheimnis. Noch zu wenig bekannt ist die große Rolle, die in diesem Kontext die Münchner Frauenbewegung für die Entstehung des Jugendstil spielt, insbesondere das Münchner Foto-Atelier Elvira und die Protagonisten und Protagonistinnen der Münchner Moderne.
Ab nach München
»Ab nach München!«, hieß es im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts allerorts. Man war davon überzeugt, dass der Aufbruch zum »neuen Menschen«, der Aufbruch in die »Moderne« nur hier erfolgen konnte. Alles was Rang und Namen hatte zog damals nach München. „Hier gab es »kein Oben und Unten wie im klassen- und standesbewußten Norden, sondern mehr ein lässiges, gefälliges Nebeneinander, augenzudrückendes Gehen- und Gewährenlassen, nur mit gelegentlichen Intervallen durch Berserkerausbrüche des in allem Phlegma angeborenen bajuwarischen Jähzorns. Mannigfaltigkeit, Farbigkeit, Sinnenfreude und nicht zuletzt Komik, wo das Auge verweilte«, schreibt der Schriftsteller Max Halbe. Er war überzeugt: »daß es eben nur München gebe, wenn man zur Kunst wolle, dies eine München und keine andere Stadt neben ihm«. Diesem Ruf folgten viele, und durch den stetigen Zuzug entstand ein kreatives und fruchtbares Gemisch von Alteingessenen und Fremden.
„München leuchtete“
»München leuchtete.« Mit diesem Eingangssatz hat Thomas Mann in seiner Novelle “Gladius Dei” das München dieser Jahre beschrieben, die besondere Atmosphäre und Energie, die damals über München lag. In den 1890er Jahren, in den Jahren in denen der Münchner Jugendstil entsteht, ist München die Stadt der Superlative, die Stadt der Stars, die Stadt kometenhafter Karrieren. Berühmte Zeitschriften wie der “Simplicissimus” oder die “Jugend” werden hier gegründet. In keiner anderen Stadt gibt es so viele Skandale wie in München, hier toben die Kämpfe um die Moderne. Stellvertretend für Deutschland findet hier die Befreiung von den engen Sitten und Gebräuchen des Wilhelminischen Kaiserreiches statt.
Von hier aus wird provoziert, erfolgen die meisten Angriffe. Nicht nur durch literarische, künstlerische und architektonische Werke, sondern auch durch die neuen Lebensentwürfe,
die in diesem Jahrzehnt in München gelebt und zur Schau gestellt werden. Völlig neue Rollen als Mann und Frau werden ausgetestet, neue Formen des Zusammenlebens ausprobiert, neue Formen der Sexualität und Erotik gelebt. Tatsächlich findet in München der Aufbruch zum “neuen” Menschen statt.
Am Ende des 19. Jahrhunderts ist München nicht nur zur zweiten Metropole des Reichs aufgestiegen, sondern auch zu einer der bedeutendsten Kunstmetropolen Europas avanciert. Doch 1899 steht die Stadt auch als das Flaggschiff der modernen Frauenbewegung da, als ein Leuchtturm der deutschen Emanzipation, als eine Stadt moderner, progressiver emanzipierter Frauen.
Der vorstehende Text basiert auf Ingvild Richardsen “Leidenschaftliche Herzen”. In dem Buch wird die Entstehung des Jugendstils in München im Kontext der Frauenbewegung geschildert. Der Jugendstil war auch ein Schwerpunkt der von ihr kuratierten Ausstellung “Evas Töchter”, 2019 in der Monacensia in München. Außerdem wurde das Atelier Elvira, eine Keimzelle des Münchner Jugendstils, von Ingvild Richardsen im grafischen Kabinett der Kunstsammlung Augsburg präsentiert (2022).
Die Literaturwissenschaftlerin und Kulturhistorikerin, Autorin und Ausstellungskuratorin Dr. Ingvild Richardsen hat in Würzburg, Siena, Bonn und München studiert.
Seit ihrer Promotion an der LMU München (2000) ist sie als Wissenschaftlerin, Dozentin und Autorin für Universitäten, Film und Fernsehen national und international tätig. Sie forscht und publiziert zu Europäischer Kulturgeschichte und Erinnerungskultur, zu Frauenbewegungen, jüdischer Geschichte, jüdischem Erbe, NS-Zeit und sowie zu modernen Kunstbewegungen wie dem Jugendstil und den internationalen Zusammenhängen. 2020 erhielt sie für ihre Bücher und Filme den Medienpreis des Zonta-Clubs Fünf-Seen-Land und den Mobility Research der Meiji University Tokyo, mit der sie wissenschaftlich eng zusammenarbeitet (Publikationen, Vorträge, Tagungen). Sie lebt in München und arbeitet als Wissenschaftlerin an der Universität Augsburg, wo sie Pilotprojekte und Forschungsprojekte durchführt.
Text und Inhalt: Ingvild Richardsen, Uwe Kullnick: Gestaltung und Realisation