“Anita Augspurg” – Ingvild Richardsen spricht mit Uwe Kullnick über die Ikone des Frauenwahlrechts – Frauenpower 1900

Geschrieben von an 23/05/2024

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“Anita Augspurg” – Ingvild Richardsen spricht mit Uwe Kullnick über die Ikone des Frauenwahlrechts – Frauenpower 1900

Würdigung zum 70. Geburtstag von Anita Augspurg.

Hördauer 05 Minuten

Hördauer 52 Minuten

Anita Augspurg war die erste promovierte Juristin in Deutschland und Akteurin des radikalen Flügels der modernen bürgerlichen Frauenbewegung. Es ist wesentlich ihr zu verdanken, dass Frauen am 19. Januar 1919 das erste Mal wählen und gewählt werden durften. Heute gilt sie, die außerhalb von bürgerlichen Konventionen lebte, als eine Kultfigur der Friedens- und Frauenbewegung. Viele ihrer Ideen sind (noch) heute von hoher Aktualität.

Zur Bedeutung von Anita Augspurg

Anita Augspurg war eine der bekanntesten Frauen ihrer Zeit. In ihrem langen Leben war sie Bürgerin vier verschiedener deutscher Staaten, sie selbst sah sich als Weltbürgerin. Seit ihrem dreißigsten Lebensjahr war sie im Deutschen Kaiserreich und später in der Weimarer Republik eine Person des öffentlichen Lebens, ein Objekt für Karikaturisten und ein Vorbild für literarische Figuren. Für die Nationalsozialisten stand sie ganz oben auf der Liste zu liquidierenden Personen. Bekannt war sie nicht als Freundin, Muse, Geliebte oder Mäzenin so genannter großer Männer, bekannt wurde sie als Schauspielerin und Fotografin, berühmt als Rednerin, Agitatorin, Publizistin, Landwirtin. Weltenbummlerin, radikale Pazifistin und Feministin. Sie hat grosses öffentliches Interesse, Achtung und Bewunderung, aber auch Hass Abscheu und Spott auf sich gezogen.

Sie war eine der intellektuellsten und radikalsten Vertreterinnen der modernen deutschen Frauenbewegung. Sie, die erste promovierte Juristin im Deutschen Kaiserreich zeichnete ihre Artikel immer mit Dr. jur. Anita Augspurg. Sie gehört zu den ersten Frauen in Deutschland, die Politik zu ihrem Beruf gemacht haben. Sie hat die feministische außerparlamentarische  Opposition im Deutschen Kaiserreich mit aufgebaut. Sie hat Vereine und Zeitschriften gegründet, vor Volkversammlungen gesprochen, Demonstrationen mit organisiert und wesentlich dazu beigetragen, das den deutschen Frauen 1918/19 das politische Wahlrecht zugesprochen wurde. Ihre herausragende Rednerinnengabe und ihre schöne Stimme waren damals legendär, wurden von zahlreichen Zeitgenossen bewundernd immer wieder herausgehoben. Mit einem für sie typischen Mix aus Pathos, Ironie und nüchterner Analyse hat Anita Augspurg auf Versammlungen und Kongressen die anwesenden Frauen und Männer immer wieder zu Begeisterungsstürmen hingerissen wie vielen zeitgenössischen Berichten und Tagebüchern zu entnehmen ist.

Sie verstand es öffentlichkeitswirksame Aktionen zu inszenieren, machte tatsächlich ihre eigene Verhaftung zu einem Medienereignis mit einem Nachspiel im Reichstag. Hinter der öffentlichen Person bleibt allerdings bis heute das Privatleben Anita Augspurgs weitgehend verborgen. Anita Augspurg hat in ihrem Leben ausschliesslich mit Frauen zusammengelebt. Sie hat über die Ehe geschrieben, über Liebe und Sexualität, andererseits waren ihr gleichgeschlechtliche Lebensformen, die Liebe zwischen Frauen, kein Thema.

Bekannt ist Anita Augspurg heute weniger durch ein so genanntes Werk, insoweit man darunter ihre politischen Schriften versteht, – zumal der Grossteil davon 1933 von den  Nationalsozialisten 1933 definitiv vernichtet worden ist, – sondern vor allem durch ihre (Auto) Biographie, durch ihre gemeinsam mit ihrer zweiten Lebensgefährtin Lida Gustava Heymann verfassten und 1972 von Margrit Twellmann herausgegebenen Lebenserinnerungen Erlebtes-Erschautes.  Geschrieben im Schweizer Exil beschreibt das Buch in einem langen Rückblick das Leben Anita Augspurgs als eine Abfolge von imponierenden Kämpfen und Siegen. Anita Augspurg erscheint hier als eine Frau, die sich nie verloren hat und deren Mut und Stärke bis heute beeindrucken. Zu der Faszination, die von der Person Anita Augspurg und ihrem Lebensentwurf ausgeht, tragen auch in hohem Maße die Elemente eines Boheme- und Aussteigerinnenlebens bei, eines Lebens außerhalb der bürgerlichen Konventionen. Heute  gilt Anita Augspurg als eine Kultfigur der Friedens- und Frauenbewegung. Sie gilt als die Pazifistin und Frauenrechtlerin, mit der eine Identifikation relativ problemlos möglich ist. Ihre überlieferten Artikel in zeitgenössischen Zeitungen und Zeitschriften, die bis heute nirgends herausgegeben sind, hat die Forschung bis heute nur in Ansätzen wahrgenommen.

In Reden, Artikeln, Briefen und Flugblättern hat Anita Augspurg 40 Jahre  lang gekämpft.

Gegen den Krieg als Mittel politischer Auseinandersetzung, gegen den Faschismus und gegen die Rüstungsindustrie. Sie hat gekämpft für Friedensministerien, für Abrüstung, für Friedenserziehung und für ein friedliches vereinigtes Europa. Sie hat gekämpft für Demokratie und Gerechtigkeit und für eine andere, radikaldemokratische Gesellschaft. Die Gleichberechtigung der Frauen war für sie unabdingbare Grundlage jeder gesellschaftlichen Veränderung. Tatsächlich war sie auch die erste Frau, die 1912 eine Nationalhymne der Frauen geschrieben hat. Anita Augspurg hat gekämpft für eine selbstbestimmte weibliche Sexualität, für die Gleichberechtigung der Ehefrau, für das politische Frauenwahlrecht, für die Öffnung aller Bildungseinrichtungen und sämtlicher Berufe für die Frauen. Sie hat gekämpft für die Vertretung von Frauen in fast allen gesellschaftlichen und politischen Gremien, in Parlamenten, Gerichten. Ausschüssen und Verwaltungen.

Anita Augspurg entstammte einer bürgerlich-liberalen Mediziner- und Juristenfamilie. Ihr Vater, ein Rechtsanwalt, hatte an den Freiheitskämpfen der Revolution von 1848 teilgenommen. Um der Enge der heimatlichen Kleinstadt und auch dem höheren Töchterdasein zu entkommen, ging sie mit 21 Jahren nach Berlin, um dort das Lehrerinnen- und später auch das Turnlehrerinnenexamen abzulegen. Parallel dazu nahm sie privaten Schauspielunterricht. Später erhielt sie Engagements an der bekannten Meininger Hofbühne und anderen Theaterbühnen in Europa. Als sie volljährig war, ermöglichte ihr ein großzügiges Erbe der Großmutter ökonomische Unabhängigkeit. 1886 zog sie zusammen mit ihrer Freundin Sophia Goudstikker nach München. Hier gründete beide das Foto-Atelier Elvira, das sich sowohl in der Münchner Moderne als auch am bayerischen Königshof schnell einen großen Ruf erwarb. Augspurg startete ihr Engagement für die Frauenbewegung im Rahmen des von Hedwig Kettler gegründeten Weimarer Frauenvereins Reform. Um besser für den Kampf für die Rechte der Frau gerüstet zu sein, nahm sie seit 1893 in Zürich ein Jurastudium auf, das sie 1897 mit der Promotion abschloss. 1894 war sie Mitbegründerin und Gründungspräsidentin des in München gegründeten Vereins “Gesellschaft zur Förderung der geistigen Interessen der Frau.”
1896 gab sie unter großem Bedauern des Vereins den Vorsitz ab, um mit ihren sozialpolitischen Aktivitäten nicht den als gemäßigt geltenden Verein zu gefährden. 1896 startete sie eine Kampagne gegen das Ehe- und Familienrecht im geplanten Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB). Über die Öffentlichkeit Politik zu betreiben war eine Strategie, die Augspurg mit großem Geschick verfolgte. Ebenso betrieb sie Lobbying bei einflussreichen Politikern.
Anita Augspurg war Deutschlands erste promovierte Juristin. Aus persönlichen Gründen (Trennung von Goudstikker) aber auch aufgrund einer anderen politischen Überzeugung verließ Augspurg 1899 den von ihr in München mitgegründeten Verein, um sich nun definitiv dem „radikalen Flügel“ der bürgerlichen Frauenbewegung anzuschließen. Fortan war sie als Vorkämpferin für das Frauenstimmrecht und als radikale Pazifistin bekannt. Von der Gründung des Deutschen Vereins für Frauenstimmrecht (DVF) im Jahr 1902 bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs galt ihr Kampf – zusammen mit ihrer neuen Lebenspartnerin Lida Gustava Heymann – nun international dem Frauenwahlrecht und dem Pazifismus. Zusätzlich versuchte sie, Politik im Rahmen einer Partei zu betreiben. 1903 trat sie zusammen mit Heymann der Hamburger Freisinnigen Volkspartei (FVP) bei. Als die Partei sich weigerte, die Forderung nach dem Frauenstimmrecht in ihr Programm aufzunehmen, verließ Augspurg die FVP wieder.
Von 1907 bis 1914 gab sie die Zeitschrift für Frauenstimmrecht heraus. Hier veröffentlicht sie 1912 auch eine von ihr verfasste Nationalhymne für Frauen. Die offizielle Geburtsstunde des Frauenwahlrechts ist der 12. November 1918, an diesem Tag verkündet die provisorische Reichsregierung in Berlin ihr Programm. Diese Errungenschaft von Weltbedeutung war vor Anita Augspurg und ihrer Vorarbeit zu verdanken.
Während des Ersten Weltkrieges tagte vom 28. April bis zum 1. Mai 1915 in Den Haag der „Internationale Frauenkongress“, an dem über 1100 Delegierte aus zwölf Ländern teilnehmen. Aus Deutschland waren hier Frauen des „radikalen Flügels“ der bürgerlichen Frauenbewegung vertreten, unter ihnen und an vorderster Front Augspurg und Heymann, die von München aus gegen den Ersten Weltkrieg agierten. Dieser Kongress protestierte gegen den Krieg als einen „Wahnsinn“, der „nur durch eine ‚Massenpsychose‘ möglich gewesen sei“. Er forderte die Regierungen zu Friedensverhandlungen auf, stellte Friedensgrundsätze auf und verlangte die politische Gleichberechtigung der Frauen. Nach dem Friedenskongress in Den Haag wird Anita Augspurg Mitbegründerin des Internationalen Frauenausschusses für dauernden Frieden, der späteren Frauenliga für Frieden und Freiheit (IFFF). Als Hitler 1933 an die Macht kam, begab sie sich zusammen mit Heymann von einer Urlaubsreise sofort nach Zürich ins Exil. Der Nachlass bzw. das Archiv der beiden Frauen wurde von den Nationalsozialisten in München zerstört. Von Zürich aus versuchten Augspurg und Heymann, unterstützt von einem internationalen Frauen-Netzwerk, gegen Hitler und später auch gegen den Zweiten Weltkrieg zu agieren. 1941 verfassten sie ihre Lebenserinnerungen. Hier findet sich folgendes Statement: „Gewalt aber kann niemals durch Gewalt überwunden werden, sondern nur […] durch Vernunft und Geist. Diese einzig richtige Erkenntnis hat sich nicht rechtzeitig durchsetzen können – eine in ihrer Mehrheit dem Wahnsinn verfallene Menschheit ist weder durch Verstand noch Vernunft zu meistern; sie muss letzten Endes an ihrer eigenen Torheit zerschellen – Stirb und werde!“. 1943 starb Anita Augspurg verarmt und krank in Zürich.

         Frauenpower 1900

Ingvild Richardsen forscht über die Frauenbewegungen und vergessenen Autorinnen des 19. und 20. Jahrhunderts. 2018 kuratierte sie die Ausstellung »Evas Töchter« (Monacensia), die die Rolle der Schriftstellerinnen in der Münchener Frauenbewegung von 1894 bis 1933 darstellte. Sie hat in Bonn und München Literaturwissenschaften und Philosophie studiert und arbeitet als Dozentin und wissenschaftliche Mitarbeiterin u.a. an den Universitäten München und Augsburg sowie für das Literaturschloss Edelstetten. Außerdem ist sie als freie Autorin und Kuratorin für zahlreiche Kulturinstitutionen, für Verlage, Film und Fernsehen tätig. Der gleichnamige Begleitband zur Ausstellung erschien im Volk Verlag, München.

Uwe Kullnick ist Redakteur, Sprecher und Moderator für zahlreiche Radiosendungen, Hörbücher (Lyrik, Prosa) und Informations-Apps. Er war Präsident des Freien deutschen Autorenverbandes.  Bis heute ist er Präsident des European Chinese Culture Exchange (ECCE) e.V. Im Jahr 2010 wurde er Schriftsteller, Redakteur und Herausgeber. Seit 2015 ist er Gründer und Leiter des Podcast-Radios Literatur Radio Hörbahn. Uwe Kullnick macht und ist verantwortlich für zahlreiche Sendungen mit Schriftsteller*innen aus Literatur, Kunst und Wissenschaft. Außerdem ist er promovierter Biologe. Er studierte Neuro-(elektro)physiologe, Anthropologie, und forensische Sexualpsychologie.

Regie und Realisation Uwe Kullnick


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